Dr. Ulrich Harmes-Liedtke ist Berater in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und Gründungspartner der Mesopartner PartG. In den letzten siebzehn Jahren hat er in Argentinien gelebt und wohnt seit Juni 2020 wieder in Deutschland. Seine thematischen Schwerpunkte sind die nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und die Qualitätsinfrastruktur. Er publiziert regelmäßig im Blog „Quality Infrastructure für Development“, #QI4D.
EQAsce: Welche Chancen und Risiken hat die aktuelle Corona-Krise in Ihrer internationalen Arbeit zu Tage gefördert?
Dr. Ulrich Harmes-Liedtke: Mein Vorteil war, dass ich schon vor der Corona-Krise intensiv mit digitalen Kommunikationstechniken in unseren Projekten gearbeitet hatte. Allerdings war auch für mich neu, für eine längere Zeit gar nicht mehr reisen zu können.
Die größte Herausforderung bestand für uns darin, unsere partizipativen Workshops in digitale Formate zu überführen. Dies veranlasste mich, mehrere Plattformen für die visuelle Zusammenarbeit auszuprobieren. Die Umstellung ging dann erstaunlich schnell, und ich war überrascht, wie produktiv und intensiv die Interaktion auch bei Online-Workshops sein kann. Diese aus der Not geborenen Formate sind Prototypen für digitalen Workshops und die Begleitung ganzer Beratungsprozesse, die wir unseren Kunden auch nach der Pandemie anbieten können.
EQAsce: Ist aus Ihrer Sicht, mit Ihrer internationalen Erfahrung, das Umstellen auf Online und der „Digitalisierungs-Push“ eine Chance, einige der SDGs schneller zu erreichen?
Dr. Ulrich Harmes-Liedtke: Wir befinden uns wohl alle in einer Situation, die sich noch vor wenigen Monaten niemand hätte wirklich vorstellen können. Insofern bin ich eher vorsichtig mit Prognosen. Klar ist aber, dass sich aufgrund der COVID-19-Pandemie die Arbeitsrealität überall auf der Welt grundlegend verändert hat. Noch Anfang des Jahres bin ich problemlos von Südamerika nach Afrika gereist, um dort Projekte zu betreuen. Heute findet alles über Videokonferenzen und andere digitale Plattformen statt. Bemerkenswert finde ich dabei, dass ungeachtet, ob jemand im globalen Süden oder Norden lebt, alle vor ähnlichen technischen Herausforderungen stehen. Dabei fällt es Kolleg*inn*en in Entwicklungsländer häufig leichter, sich an die neue Realität anzupassen. Sie haben einfach mehr Erfahrungen mit immer widerkehrenden großen Krisen.
Das Wegbrechen vertrauter Strukturen gibt mehr Raum, Neues zu denken und auch auszuprobieren. Ich merke, dass derzeit für digitale Lösungen auf aller Ebene mehr Interesse und Offenheit besteht. Dies erleichtert wiederum die entsprechende Förderung.
Digitale Technologien können zur Erreichung aller SDGs sicher wertvolle Beiträge leisten. Beispielsweise kann die Blockchain-Technologie in der Land- und Ernährungswirtschaft eine Vielzahl von Aufgaben erfüllen, die von der Herkunft von Waren, der Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln, der Reduzierung von Transaktionskosten, sicheren digitalen Zahlungen oder sogar der Verfolgung von Landbesitz reichen. Dies trägt u.a. zur Erreichung der Ziele zur Innovation und Infrastrukturaufbau (SDG 9), des nachhaltigen Wirtschaftens (SDG 8) und der Ernährungssicherheit (SDG 2) bei.
Gleichzeitig bleibt es wichtig, darauf zu achten, dass die Digitalisierung wirklich auch die schwächeren Gruppen in den Wertschöpfungsketten, wie die Kleinbauern, unterstützt und keine weitere Abhängigkeit schafft. Gefördert sollte deshalb auch die digitale Kompetenz sowie die Beteiligung aller Beteiligten an der Technologieentwicklung.
EQAsce: Müssten Konzepte, wie der Safety Culture Ladder-Standard aus den Niederlanden, international etabliert und harmonisiert werden, um in Krisenzeiten ausreichend gewappnet zu sein?
Dr. Ulrich Harmes-Liedtke: Die Safety Culture Ladder ist ein innovativer Zertifizierungsstandard zum Arbeits- und Gesundheitsschutz des Niederländischen Normungsinstituts (NEN). Das Neue an der Safety Culture Ladder ist, dass sie an der Änderung des Bewusstseins und der Unternehmenskultur ansetzt. Dieser Ansatz geht über die bloße Erfüllung von gesetzlichen Vorschriften, aber auch über die Anforderungen der ISO 45001 für Arbeitsschutz und betriebliches Gesundheitsmanagement hinaus.
Das Vorhaben von EQAsce, die Safety Culture Ladder in Agrar- und Ernährungswertschöpfungsketten einzusetzen, halte ich für sehr plausibel. Diese Zertifizierung könnte ein hilfreiches Instrument sein, den notwendigen Wandel in diesem Wirtschaftsbereich zu unterstützen. Mit solchen Standards könnten Unternehmen Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, Umweltschutz und Tierwohl bewusster zusammenführen.
EQAsce: EQAsce hat mit ihrer Arbeit die vier SDGs 3 (good health and well-being), 4 (quality education), 8 (decent work and economic growth) und 17 (partnerships for the goals) im Fokus – wo sehen Sie die Herausforderungen beim Erreichen dieser Ziele?
Dr. Ulrich Harmes-Liedtke: Die Attraktivität der globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung besteht für mich in ihrem systemischen Ansatz. Wir verstehen den Ansatz nicht, wenn wir jedes Ziel isoliert betrachten. Hochwertige Bildung (SDG 4) ist beispielsweise keine Aufgabe der Bildungsministerien, sondern der gesamten Gesellschaft. Wichtig für mich ist, dass wir die Zusammenhänge zwischen den Zielen stärker in den Fokus nehmen.
Nehmen wir die Rindfleischproduktion in Argentinien mit ihren Umweltwirkungen als Beispiel. Die traditionelle Viehproduktion ist flächenintensiv und erzeugt allein 20 Prozent der CO2-Emissionen des Landes. Bislang gibt es in der argentinischen Viehwirtschaft kaum ein Bewusstsein und noch viel weniger Maßnahmen, das Produktionssystems nach Umweltkriterien auszurichten. Eine nachhaltige Viehproduktion würde zu einer größeren Energie- und Ressourceneffizienz und damit zum Wirtschaftswachstum beitragen. Hier müssten aber auch Anstrengungen im Bildungsbereich erfolgen, die den Umbau der Produktionssysteme durch Innovationen und Infrastrukturen begleiten. Schließlich würde die Nachhaltige Produktion gute Arbeitsbedingungen einbeziehen und sich positiv auf die Ernährung und das Wohlergehen auswirken.
Die Herausforderung besteht insofern darin, einzelnen Aktivitäten, immer in einem größeren Zusammenhang zu stellen und ihren Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung zu messen.