Interview mit Frau Prof. Dr. agr. Brigitte Petersen, Sprecherin der Initiative Modell-Region Wiederaufbau und Resilienz
Zur Person
Prof. Brigitte Petersen ist seit 2015 ehrenamtliche Vorstandsvorsitzende der Europäischen Dienstleistungsgenossenschaft EQAsce mit Sitz in Bonn. Seit 2012 ist sie stellvertretende Vorsitzende des Clusters Bonn.realis e.V. Sie lehrt seit 1985 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn zum Handlungsfeld Krisen- Risiko- und Qualitätsmanagement in Wertschöpfungsketten der Agrar- und Ernährungswirtschaft.
EQA: Am 26. April gaben Sie in der Regionalvertretung der Europäischen Kommission in Bonn den offiziellen Start der Initiative Wiederaufbau und Resilienz- kurz WiR bekannt. Was waren die Beweggründe für den Start dieser bundesländerübergreifenden Initiative?
Prof. Dr. Petersen: Die Folgen der Flutkatastrophe vom Juli sind für mehr als 100.000 Menschen und fast 15.000 Unternehmen im Rheinland immer noch allgegenwärtig. Insbesondere für die betroffenen Winzer-, Gartenbau-, Grünland- und Ackerbaubetriebe aber auch die Unternehmen des Lebensmittelhandwerks und der Gastronomie geht es mit dem Wiederaufbau viel zu langsam voran. Viele bangen um ihre Existenz!
Nicht nur deshalb haben sich Betroffene, private Hilfsnetzwerke und Kommunen in diesen Flutregionen mit ihren parallel entstandenen Initiativen zu der ersten WiR Aktion dieser Art in Deutschland zusammengeschlossen.
Es geht uns allen darum, den Wiederaufbau mit einem gemeinsamen Konzept zu beschleunigen. Hierzu ist es erforderlich, Transparenz zu schaffen und unsere unterschiedlichen Kompetenzen sowie vorhandene unternehmerische Kräfte sinnvoll zu bündeln. Wir versprechen uns davon eine bessere Sichtbarkeit für die Komplexität notwendiger Maßnahmen und die längst überfällige Etablierung eines wirtschaftsgetragenen Steuerungskreis mit entsprechender personeller Ausstattung. Aber es sollen auch andere Regionen in Deutschland und Europa in ähnlicher Lage rasch an unseren digitalen Innovationen und unsere Vorgehensweise in den drei WiR Verbundprojekten partizipieren.
EQA: Was macht die Modell-Region zwischen dem nördlichen Rheinland-Pfalz und dem südlichen Nordrhein-Westfalen so besonders?
Prof. Dr. Petersen: Die Menschen hier erlebten und verarbeiteten in den letzten Monaten gleichzeitig mehrere bedrohende und traumatische Ereignisse: Verluste und Zerstörungen in der Flutnacht, die nicht enden wollende Corona-Pandemie und den unerwarteten Ausbruch des Krieges in der Ukraine mit all seinen Folgen. Trotzdem haben die meisten von ihnen eine bewundernswerte Solidarität und Kraft entwickelt, an ihren Wiederaufbau-Plänen, Wünschen und Hoffnungen für die Zukunft ihrer einzigartigen Kulturlandschaft und Lebensräume festzuhalten und nicht zu resignieren. Diese Kraft kann auch als jene Resilienz bezeichnet werden, um die es uns in der rheinischen Initiative geht. Das rheinische Wir-Gefühl spiegelt sich im Logo WiR der Initiative wider. Es soll Synonym für eine Gemeinschaftsleistung von aktiven betroffenen Unternehmen, privaten freiwilligen Hilfsnetzwerken und öffentlichen Trägern im Wiederaufbau sein. Hinzu kommt, WiR kann auf Innovationen aus bestehenden, stabilen Netzwerken in der Modell-Region zurückgreifen, wie z.B. auf das >>Cluster Bonn.realis oder im letzten Jahr angestoßene LEADER Initiativen.
EQA: Wie lässt sich der immer noch steinige Weg des Wiederaufbaus gestalten und finanzieren?
Prof. Dr. Petersen: Es liegt auf keinen Fall am nicht vorhandenen Geld für den Wiederaufbau oder an fehlenden Bundesprogrammen für eine zukunftsweisende nachhaltige Entwicklung der betroffenen Flutregionen. Es sind andere Zwänge, warum sich viele erforderliche Maßnahmen noch nicht umsetzen ließen. Beispielsweise die Einschränkungen in den Verordnungen, was aus Wiederaufbaumitteln finanziert werden darf. Hinzu kommen fehlende Organisationsstrukturen für einen noch nie zuvor dagewesene komplexen Wiederaufbau. Das dringend benötigte zusätzliche Personal in der öffentlichen Verwaltung lässt sich beispielsweise nicht aus den Bundes- und Landesmitteln für den Wiederaufbau bezahlen. Am nötigsten werden derzeit Finanzierungsmöglichkeiten für Fachkräfte sowie Experten und Expertinnen für die Beratung und den Wiederaufbau von Unternehmen sowie die Wiederherstellung landwirtschaftlicher Bodenwerte gebraucht. Denn Wirtschaftskraft und Tourismus lassen sich nur dann an die Ahr und in die Eifel zurückholen, wenn es gelingt, durch eine gemeinsame Kraftanstrengung Winzer- sowie land- und forstwirtschaftliche Betriebe, Lebensmittelhandwerk und Gastronomie zeitgleich zu sanieren. Auch die Vision von regionalen Wertschöpfungspartnerschaften mit einem gemeinsamen Marketing braucht Geld, um Menschen zusammenzuführen und kurz und langfristige Konzepte hierfür zu entwickeln. Fehlende personelle Ressourcen trafen zunächst sowohl die zuständigen Ministerien, die nachgeordneten Stellen und die Verantwortlichen für den Aufbau in den Kreisen. Dieses kaum durch die öffentliche Hand alleine zu lösende Problem sprachen die beiden Vertreter der Landesministerien, Thomas Lennertz vom MHKBG in Düsseldorf und Henning Schwarting vom MDL in Mainz bei unserer Podiumsdiskussion am 26. April offen an. Kein Ministerium auf Landes- und Bundesebene war im Juli letzten Jahres darauf vorbereitet, angesichts der historischen Flutkatastrophe, in kürzester Zeit Verwaltungsabläufe von der Beantragung bis zur Bewilligung zu digitalisieren oder das vorhandene Personal zu schulen. Auch für die Beschleunigung der Abstimmungsprozesse auf EU- Bundes- und Landesebene fehlten die personellen Ressourcen. Dies sind wesentliche Gründe, warum nach fast zehn Monaten der größte Teil der Wiederaufbaumittel noch nicht bewilligt und zur Auszahlung gekommen ist.
Mit der Initiative WiR soll der Wiederaufbau stärker als bisher zu einer Gemeinschaftsaufgabe zwischen öffentlicher Verwaltung und regionaler Wirtschaft werden. Gleichzeitig ist WiR das Experiment für eine neue krisenfeste und nachhaltige Organisationsentwicklung zu einer neuen Public-Private-Partnership- Struktur. Genossenschaften bilden dabei die ideale Unternehmensform auf Seiten der Wirtschaft. Christoph Kempkes, Vorstandsvorsitzender von der Raiffeisen Waren-Zentrale Rhein-Main eG und ich haben dies in der Podiumsdiskussion näher erläutert. Als eigenverantwortlich entscheidende Unternehmen sind wir im Stande, in kürzester Zeit über unsere Netzwerke sowohl Fachkräfte, Experten als auch für die Sanierung nötiges Gerät, Spenden und ehrenamtlich helfende Hände zu mobilisieren. Damit sorgen wir für die benötigte „Schnelle Eingriffstruppe“ im Wiederaufbau nach dem Katastrophenfall.
EQA: Wie können die zentralen Grundprinzipien von Genossenschaften als Katalysator im Wiederaufbau wirken?
Prof. Dr. Petersen: „Was einer alleine nicht schafft, das schaffen viele!“ – auf diesem Leitsatz beruhen unsere beiden genossenschaftlichen Unternehmen. Die zentralen Werte Solidarität und Zusammenhalt machen es möglich, die Prinzipien von Selbsthilfe und Selbstverantwortung erfolgreich umzusetzen. Die landwirtschaftlichen Betriebe haben dies im letzten Jahr bei der schnellen Entschädigung ihrer Ernteausfälle aufgrund der Flut erlebt. Waren sie bei der ebenso genossenschaftlich organisierten Vereinigten Hagel versichert, wurde der Schaden durch Sachverständige zügig ermittelt und sie in kürzester Zeit entschädigt. Denn immer stehen bei Genossenschaften das Wohl und die Förderung der Mitglieder über der Profitmaximierung. Zusätzlich stärkt die Verwurzelung in der Region den ländlichen Raum. Niedrige Insolvenzraten, demokratische Abstimmungsprozesse und ein Fokus auf Gemeinwohl zeichnen Genossenschaften als Vertrauensanker aus.
Die Europäische Dienstleistungsgenossenschaft EQA hat aus diesem Impuls heraus nicht nur nur wenige Tage nach der Flut ein Lagezentrum für eine Fach Task Force zur Wiederherstellung landwirtschaftlicher Bodenwerte eingerichtet. Nun ist sie seit dem 26. April auch die Geschäftsstelle für die Initiative Modell-Region WiR.
Als Sprecherin der Initiative ist es derzeit meine Aufgabe, die Konstituierung des Steuerungskreises aus den Partnern der >>>drei WiR Projekte vorzubereiten. Gemeinsam mit dem operativen Führungsgremium sorgen wir dann für die Mischfinanzierungen der miteinander verknüpften Projekte aus unterschiedlichen Förderprogrammen der EU, des Bundes, der Länder, von Stiftungen und privaten Spenden.