Im Rahmen des EIP-Workshops Anfang August 2020 haben wir Max Thinius kennengelernt. Er gilt als einer der führenden Futurologen und Zukunftsgestalter in Europa. Charakteristisch ist der runde Hut, den er stets bei Vorträgen trägt – und aus dem er immer neue Ideen und Sichtweisen zaubert. EQAsce hat ihm ein paar Fragen stellen dürfen und umfassende Antworten erhalten. Lassen Sie sich überraschen…
EQAsce: Sie sagen, dass Landwirte künftig ihre Lebensmittel nicht mehr nur als ein materielles Produkt vermarkten sollten, sondern gemeinsam mit einem ganzen Satz von Daten als Teil des Produkts, um die Erzeugung nachvollziehen und es rückverfolgen zu können. Inwiefern trifft das auch auf personenbezogene Daten zu, wie etwa von Qualifikationen und Kompetenzen, die jede Personen besitzt, die an der Erzeugung von Obst und Gemüse, Fleisch, Milch und Eiern beteiligt ist?
Max Thinius: Stellen wir uns einmal vor, jedes Produkt hat einen eigenen Algorithmus, kann also anhand der Art des Saatgutes, der Art wie es aufwuchs und gepflegt wurde, wieviel Wasser, Sonne, wieviel und welchen Dünger es erhalten hat, Pestizide usw. identifiziert werden. Das muss nicht einmal ein Muss sein, aber es wird Zielgruppen geben, die möchten das gerne wissen. Im Moment arbeiten unter anderem Sportartikel-Hersteller daran solche Produkte zur Verfügung zu stellen, da wir im erntefrischen Produkt auch recht genau wissen, welche Inhaltsstoffe dort genau drin sind: also wieviel Karotin zum Beispiel in einer Möhre, der genaue Zucker-Anteil etc. Dann entstehen für Bauern tatsächlich neue Geschäftsmodelle, in denen sie nicht nur die Produkte, sondern auch die dazu gehörigen Daten vermarkten können. Vor allem dann, wenn auf der anderen Seite die Konsumenten selbst durch Sensoren in ihrer Umwelt, Zahnbürste, Bett, Gesichtserkennung beim Entsperren des Telefons, Bewegung etc. immer genauer wissen werden, welche Produkte sie brauchen. Dann könnte es irgendwann Gemüse von, sagen wir Adidas geben.
„Es entstehen für Bauern neue Geschäftsmodelle, in denen sie nicht nur Produkte, sondern die dazugehörigen Daten vermarkten.“
Sie fragen aber explizit zu den personenbezogenen Daten. Hierzu müssen wir zunächst die aktuelle Datenlage etwas ändern. Das wird etwas später kommen als das oben beschriebene Gemüse, das ist bereits im Anmarsch. Um personenbezogene Daten einzusetzen müsste zunächst jeder Mensch seinen persönlichen Algorithmus besitzen dürfen. Man lässt sich also selbst von einem, sagen wir „Bot“, von der Geburt an beobachten. Ein solcher Bot wird Menschen zukünftig bei vielen Entscheidungen unterstützen – vom Einkauf bis zur Wahl der richtigen Altersvorsorge. Nur, dass „unser eigener“ Algorithmus auch wirklich nach unseren eigenen Bedürfnissen Vorschläge abgibt, die wir befolgen können oder nicht. Oder wir beauftragen unseren Algorithmus uns in eine bestimmte Richtung (gesünder Leben zum Beispiel – aber auf eine für uns verträgliche Art) zu beraten.
Bei solchen Algorithmen könnten wir dann auch entscheiden, ob wir sie in Teilen anderen Menschen freigeben. Entweder personalisiert oder anonymisiert. Wir hätten damit den Souverän über unsere eigenen Daten und nicht irgendwer. Erst wenn diese Situation hergestellt ist, macht es Sinn personenbezogene Daten einzusetzen. Zum Beispiel um ohne die heute bekannten Plattformen mit Menschen in Kontakt zu kommen, die ähnlich ticken wie wir, also ähnliche Ideale haben. Und dann macht es auch Sinn, denn wir könnten Produkte mit Menschen tauschen, die unsere Arbeit und Denkweise schätzen – zunächst anonym, später lernt man sich besser kennen und öffnet seine Daten.
„Wir hätten den Souverän über unsere eigenen Daten und nicht irgendwer“
Hierzu müssen wir also umdenken, umstrukturieren und neue Regeln und Gesetze finden. Das wird ab ca. 2025 passieren und dann noch einmal zwei bis fünf Jahre dauern, bis es sinnvoll eingeführt ist. Bis dahin werden wir aber bereits digitale Produktdaten im Alltag nutzen.
Und übrigens: Keine Panik, Algorithmen benutzen wir schon immer. Wir machen sie uns heute schon selbst wenn wir Entscheidungen treffen. Nur eben analog. Digital geschieht das nur schneller mit einer größeren Datenmenge. Deshalb ist es so wichtig, dass wir, bevor wir Experimente mit personenbezogenen Daten machen, klar die Datenhoheit bei dem Individuum sehen, dass sie auch erzeugt und nicht wie heute bei multinationalen Konzernen.
Futurologe Max Thinius im SWR1-Interview
EQAsce: „Digitalisierung ist das Gegenteil von Industrialisierung“ behaupten Sie, weil sie Transparenz in neuen Organisationsstrukturen schafft. Besteht die Chance, durch Transparenz auch mehr Gerechtigkeit herzustellen z.B. bei der Preisbildung? (Zum Beispiel weil Kunden nachvollziehen können, dass ihr ausgegebenes Geld tatsächlich in Investitionen für mehr Tierwohl geflossen ist) Oder scheitert dieser Austausch von Daten dort, wo sich Marktpartner durch die Transparenz überwacht fühlen und Informationen zurückhalten?
Max Thinius: Auf Basis der heutigen Rechtslage mit Daten ist das schwierig direkt zu beantworten. Natürlich ist es bereits heute möglich eine absolute Transparenz in der Preisfindung durch Daten herzustellen. Wir können sogar die allgemeine Umweltbelastung zu weiten Teilen einpreisen (siehe hierzu >>Penny). Insgesamt wird die Datenlage immer genauer.
Der Austausch von Daten wird also zukünftig aus zwei Gründen nicht mehr scheitern können. Zum einen gibt es zunehmend Vergleichsdaten und es wird Portale geben, die die tatsächlichen Kosten anzeigen und vergleichen. Parallel werden wir zunehmend ein Gespür entwickeln. Und es wird auch neue Regeln und Gesetze geben, die eine Transparenz möglich machen müssen in bestimmten Bereichen.
Spannend wird es aber auf Seiten der Verbraucher. Dieser wird sehr wahrscheinlich zukünftig nicht nur die Preistransparenz haben, sondern auch eine App, die ihm anzeigt, wie positiv oder negativ sein Verhalten heute für die Welt ist, quasi ob er sich im grünen oder roten Bereich mit seinem Konsum, Handlungen etc. bewegt. Das hat tatsächlich nichts mit „Überwachung“ zu tun, sondern mit Sensibilisierung. Denn heute weiß man oft gar nicht, was man dem Planeten antut. Zukünftig kann man es auf seiner Armbanduhr sehen oder es wird einem in seine Brille eingeblendet. Zunächst einmal sind das noch eher grobe Daten und Hinweise, diese werden aber exponentiell genauer. Und mutmaßlich werden sie auch notwendig, um langfristig eine positive Entwicklung unserer Umwelt zu erreichen.
„Das hat nichts mit Überwachung zu tun, sondern mit Sensibilisierung“
Wenn jetzt diese beiden Datenströme aufeinandertreffen, also die aus der Herstellung und die aus dem Verhalten der Konsumenten, dann wird ein Schuh daraus. Die Transparenz und Möglichkeiten zur Einpreisung haben wir heute schon und sie wird sich rasch ausbreiten (siehe Penny). Die andere Seite, dass wir unseren eigenen ökologischen Fußabdruck erkennen, wird in den nächsten zwei Jahren den Markt erreichen und sich dann bis Ende dieses Jahrzehnts weitgehend perfektionieren.
Und ja: natürlich wird das zu einer vollkommen neuen Form der Landwirtschaft und Produktion von Produkten allgemein führen. Und ja, einer zunehmenden Abkehr von der heutigen industriellen Produktion, hin zu einer transparenten Datengestützten – wobei auch auf der Produktionsseite natürlich der für die Umwelt positive Anbau (z.B. Humus basierte Landwirtschaft) honoriert werden kann. Auf diese Weise entsteht sowohl in der Produktion als auch beim Verbraucher eine Sensibilisierung für umweltgerechte Produkte und Produktion. Das hat übrigens nichts mit heutigen Öko-Labeln zu tun, eher mit unserem ursprünglichen Verständnis von Landwirtschaft – nur eben in einem digitalen Netz.
EQAsce: Welche digitale Infrastruktur muss Landwirten zur Verfügung gestellt werden, damit sie selbst über die Weitergabe/Freigabe von Daten entscheiden können? Wie lässt sich das Vorurteil aus dem Weg räumen, dass es nur einige Großkonzerne sind, die das Interesse haben, alles an Daten zu sammeln, was sie kriegen können? Welche Chance haben hier kleine und mittelständische Unternehmen in der Landwirtschaft, mit der nicht mehr aufzuhaltenden Digitalisierung mitzugehen und die Datenhoheit zu behalten?
Max Thinius: Eine digitale Infrastruktur muss niemandem „zur Verfügung“ gestellt werden – die steht jedem jederzeit offen und ist auch kein Hexenwerk. Es gibt zumeist sogar Open-Source-Lösungen, die in der Regel nur wenig kosten. Zunächst einmal ist es wichtig, dass ein Landwirt sich entscheidet einen anderen Weg zu gehen. Nämlich einen in der digitalen und nicht mehr in der industriellen Landwirtschaft. Sobald er das tut, ist die Datenhoheit bei ihm, bzw. er teilt seine Daten dann freiwillig in verschiedenen Netzwerken, die ihm helfen seine Ernte zu optimieren. Hierzu allerdings, und das gebe ich zu, muss er das Wissen darum haben, sich also ausgiebig mit der Materie beschäftigt haben und auch seine Absatzkanäle in der Regel umstellen, und meist auch seinen Betrieb. Das sind zugegebener Maßen Aufgaben, die schaffen nur wenige alleine.
Auf der anderen Seite wird es immer einfacher. Verschiedene Plattformen bieten heute bereits Produkte ab Hof direkt zum Weiterverkauf an größere Abnehmer wie Restaurants, Start-Ups und mittelgroße Weiterverarbeiter und Märkte an. Auch die Direktvermarktung an Konsumenten wird zunehmen, ist aber natürlich komplexer, da sie aus kleineren Einheiten besteht. Auf www.pielers.de kann man einen ersten Eindruck bekommen, wie das zukünftig funktionieren könnte. Solche Plattformen könnten den Zwischenhandel ersetzen, auch für kommerzielle Abnehmer. Die Daten würden zunehmend die Qualität der Plattformen, der Produkte und die Transparenz der Preise unterstützen. Große Konzerne sind zunehmend außen vor – aber wie gesagt: am Anfang muss man die Entscheidung treffen, die eigene Welt in diese Richtung zu bewegen. Möglich ist es, passiert aber nicht automatisch!
„Man muss sich Bewusst von bestehenden Strukturen verabschieden“
An dieser Stelle sähe ich die Genossenschaften oder Verbände in einer guten Ausgangsposition in der Umstellung zu helfen. Auch hier aber gilt: zunächst muss man sich bewusst von bestehenden Strukturen verabschieden. Glücklicherweise kommt uns hier der Handel in Teilen entgegen, wenn er erkennt, dass er mit diesen „neuen“ Produkten mehr Marge machen kann. Gleichzeitig entstehen grundsätzlich neue Absatzwege. Wie schnell der Wechsel hier insgesamt geht, ist aber rein eine persönliche Entscheidung. Kleinere und mittlere Betriebe haben es mutmaßlich oft sogar leichter in der Umstellung als große, da diese viel tiefer in bestehenden Strukturen verwoben sind.
Aber am Ende ist die Wahrheit tatsächlich die: man kann hier nicht auf andere schimpfen, man muss zunächst selbst entscheiden was man will – dann werden sich Lösungen finden. Bleibt man bei dem was man tut, wird sich nichts ändern. Die digitalen technologischen Möglichkeiten zu einer Änderung sind aber alle da. Funktionieren aber eben nur wenn sie genutzt werden.
EQAsce: Der Förderauftrag von Genossenschaften spielt in der Landwirtschaft eine große Rolle. Liegt in dieser Form der Zusammenarbeit auch in Bezug auf die Digitalisierung besonderes Potential, das künftig noch stärker genutzt werden sollte?
Max Thinius: Die kurze Antwort: Ja!
Genossenschaften könnten wunderbar Wissen zur Umstellung in eine digitale (statt industrielle) Landwirtschaft ansammeln und ihren Mitgliedern zur Verfügung stellen. Sie könnten neue Handelsstrukturen aufbauen, neue Produktionsmethoden bekannter und bei Verbrauchern akzeptierter machen. Das können sie aber nur, wen sie von ihren Mitgliedern den Auftrag bekommen. Und auch dann wird es nicht von heute auf morgen passieren – was aber gut ist. Denn es wird einige Betriebe geben, die stellen schneller um, da sie im Digitalen mehr Möglichkeiten sehen, andere später, da sie mit den vertrauten Strukturen derzeit noch besser bedient sind. Auf diese Weise würde es nicht mal zu eruptiven Marktbewegungen kommen.
Aber wir müssen natürlich berücksichtigen, dass es in diesem Spiel einige „Machtspieler“ gibt. Denn bei jedem Wechsel verlieren einige Teilnehmer in einem Markt Macht. Klar, andere wollen diese ja auch haben und für sich nutzen, statt wie bisher davon abhängig zu sein. Möglicher Weise sind heute auch einige Landwirte von diesen Machtstrukturen abhängig, auch wenn sie es nicht wollen. Oder sie wissen zumindest nicht, wie sie dort herauskommen können.
„Selbst in schwieriger zu entwickelnden Regionen schaffen wir es heute dank digitaler Technologie, sowohl die Qualität der Ernte zu heben als auch die Kosten für Dünger und Pestizide zu senken…“
Ähnlich wie für Start-Ups sollten Genossenschaften daher Fonds für die Umstellung einrichten. Das Risiko wäre gering, da man über zunehmende neue Märkte eine recht sichere Basis herstellen könnte. Die Umstellungen wären auch nicht so teuer und aufwendig wie zu einem ökologisch zertifizierten Betrieb. Zugleich könnte man die Erfahrungen zunehmend in die Umstellung einfließen lassen und sich weltweit in Netzwerken austauschen, die bereits derartige Umstellungen angehen. Man könnte sogar vom WFP, dem World Food Program der Vereinten Nationen lernen, die mit Mikro-Farmern in Indien und Afrika Möglichkeiten aufbauen, wie diese ihre Produkte an Großabnehmer verkaufen können – per App und die Bezahlung erfolgt in Krypto-Währung, da die Farmer dort zum einen kein Bankkonto bekommen würden, zum anderen hätten teilweise die Regime dann zu großen Zugriff auf die Gelder. Aber selbst in diesen, weitaus schwieriger zu entwickelnden Regionen, schaffen wir es heute, dank digitaler Technologie, sowohl die Qualität der Ernte zu heben, bei gleichzeitig deutlicher Senkung der Kosten für Dünger und Pestizide, Abkehr von industriellen Strukturen und bekannten Großabnehmern, hin zu einem sicheren Leben, das durch das gemeinsame Netzwerk sogar bei Ernteausfällen schützen kann. Ganz ehrlich, das sollten wir in unserem Land auch hinbekommen können!
Foto: Dierk Kruse